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Das Gummiprinzip
von Double-X
Stand: 27.Oktober 2009:
Kießling. In dem Moment, in dem der Name des derzeit erfolgreichsten Bundesligastürmers fällt, gefriert schlagartig das unverbindliche Interview-Lächeln im Gesicht von Joachim Löw. Er zieht die Augenbrauen hoch und nestelt nervös am modischen Schal, der wie einst Schöns Mütze zum festen Erscheinungsbild des Bundestrainers gehört. Der Schal steht für Eleganz. Doch Löw will auch mit ganz anderen Attributen in Verbindung gebracht werden: Erfolg, Zielstrebigkeit, Leistungsorientiertheit, Professionalität.
Doch während die sportlichen Darbietungen seiner Mannen hinreichend Argumente für eine solche Einschätzung liefern, wankt das Image jenseits von Spiel und Analyse bedenklich. Löw weiß das und eben deswegen ist der Name Kießling ein Reizwort unter den DFB-Funktionsträgern.
Sechsmal netzte Stefan Kießling in dieser Bundesligasaison schon ein; häufiger als die Nationalstürmer Cacau (1), Klose (0), Gomez (3) und Podolski (1) zusammen. Diese Statistik mag nur eine unbedeutende Momentaufnahme sein, sie ist gleichzeitig aber auch das Symbol von Löws größtem Problem: Seiner personellen Unglaubwürdigkeit.
Seit seinem Amtsantritt im Spätsommer 2006 wird Löw nicht müde, das Leistungsprinzip als zentrale Größe für Nominierung und Aufstellung auszurufen. Wer gut genug ist, der spielt auch. Klingt einfach, ist es aber nicht. Denn das Phantom „Leistung“ ist im Fußballsport kaum zu greifen. Ein Umstand, den sich das Team Löw zu Nutze macht, in dem es das Prinzip nach eigenem Gusto staucht oder ausdehnt und damit immer wieder für mediales Kopfschütteln sorgt. So wurde Kießling, den Stammtischbundestrainer in Internetforen landauf, landab zurück ins Nationaldress schreiben wollen, bei den Nominierungen für die WM-Qualifikationsspielen hartnäckig orientiert. Ein paar gute Spiele, so wurde den Journalisten in den Block diktiert, seien für diese Weihen doch nicht ausreichend. Bestes Beispiel hierfür sei doch Kuranyi, den Fußballdeutschland nach seinen beiden Treffern zum Auftakt auch schon wieder im Kreis der Ballacks, Lahms und Co sehen wollte. Dieses Statement ignoriert hartnäckig Kloses rekordverdächtiges Dauerformtief, Podolskis frustrierende Erfolgslosigkeit, Gomez‘ bajuwarische Akklimationsschwierigkeiten und das seltsame Virus, das beim VfB Stuttgart und damit auch bei Neu-Nationalspieler Cacau für Orientierungsschwierigkeiten sorgt, die bei brasilianisch-deutschen Angreifern schon Tradition haben. Ulkig auch, dass mit Jerome Boateng gegen Russland ein Spieler in der Startelf debütierte, der in der vergangenen Saison dank mehrerer desaströser Bundesliga-Auftritte ganze sechs Partien über die volle Spielzeit absolvierte. Für Boateng genügten eine Handvoll solider Leistungen in den letzten Wochen für die Nominierung – Kießling nicht. Leistungsansprüche als Gummiprinzip.
Anderes Beispiel gefällig? Als Torsten Frings vergangenes Jahr sein Reservistendasein monierte, erteilte ihm der Bundestrainer eine klare
Abfuhr: Es gehe nicht, dass ein Spieler in dem Moment, wo er auf der Bank sitzt, von mangelndem Respekt oder sogar von Demütigung spricht, stellte er klar. Denn entscheidend sei schließlich das Leistungsprinzip.
Kein volles Jahr später dehnte Löw den Leistungsgummi in die entgegengesetzte Richtung. Im Vorfeld des Qualifikationsspiels gegen Aserbaidschan stellte er hinsichtlich der Causa Frings fest: Einem solch verdienten Spieler sei die Ersatzbank nicht zuzumuten.
Im Zuge der Vorbereitung auf die EM 2008 nominierte Löw einen erweiterten Kader, dem u.a. die Neulinge Marin, Jones und Helmes angehörten. Zwischen den Trainingseinheiten lobte der Trainer insbesondere Marin über den grünen Klee, der sich ob dieser warmen Worte schon im EM-Quartier wähnen durfte. Bei der Bekanntgabe des endgültigen Kaders auf der Zugspitze tauchte sein Name dann aber genauso wenig auf, wie der von Jones und Helmes. Sie seien zu unerfahren (Marin, Helmes) oder spielten auf Positionen, die schon ausreichend stark besetzt seien (Jones). Eine Erkenntnis, die bereits seit Monaten bekannt war. Statt der Genannten nutzte Löw lieber wieder seine persönliche Auslegung des Leistungsprinzips und setzte z.B. auf Odonkor, der in den zwei Jahren seit seiner überraschenden WM-Nominierung jede sportliche Weiterentwicklung vermissen ließ.
Die Liste ließe sich beliebig fortführen mit kaum nachvollziehbaren Nominierungen (Huth, Weis, Metzelder), aufs Abstellgleis abgeschobenen Profis (M. Friedrich, Castro, Hildebrand ) oder hartnäckig ignorierten Leistungsträgern (Riether, Kuranyi).
Zahlreiche Fälle, die Zweifel an der Glaubwürdigkeit und Professionalität des Trainerteams beständig nähren. Bleiben die Erfolge aus, so wird das argumentative Gummiband Löw mit voller Wucht entgegenschnalzen. Dann wird ihm auch der elegante Schal keinen Schutz bieten. Ein wahrlich riskantes Spiel.
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