Theorien aus den Wechseljahren
von double-x
Was haben das afrikanische Stinkholz und der Jangtse-Glattschweinswal mit Vereins-Urgesteinen im Profifußball gemeinsam? Sie sind hochgradig vom Aussterben bedroht. Was für das Stinkholz die Rohdung der Bergwälder und für den Glattschweinswal der zunehmende Schifffahrtsverkehr ist, sind für den Profifußball die Verlockungen des modernen Fußballgeschäfts. Mit Stammtisch-Schimpftiraden von „Abzockmentalität der Fußballmillionäre“ über „Verrohung der Sitten“ bis „Früher hätt’s das nicht gegeben“ ist das Aussterben des vereinstreuen Profis allerdings nur unzureichend erklärt.
Was ist heute wirklich anders als „früher“? Und warum? Wer sich die Mühe machen will, abseits von Männergedecken und aufgeweichten Bierdeckel ernsthaft darüber zu grübeln, warum der Profifußball sich längst in den Wechseljahren befindet, stößt dabei womöglich auf Theorien wie die folgenden.
Theorie 1: Internationale Verschiebung der Erfolgsrelationen
Triumphe im UEFA-Cup/Messepokal oder dem Europapokal der Pokalsieger waren noch in den 1970er Jahren mehr als nur Randnotizen auf dem Vereinsbriefkopf. Für Vereinsikonen wie Manfred Kaltz (Hamburger SV, EP der Pokalsieger 1977) oder Berti Vogts (Bor. Mönchengladbach, UEFA-Cup 1979) bildeten die kontinentalen Triumphe absolute Karrierehöhepunkte. Bereits in den 1990er Jahren verlor der Pokalsiegerwettbewerb derart an sportlicher Reputation, dass er noch vor der Jahrtausendwende eingestampft wurde. Auch nur noch eine Existenz am Rande des Kammerflimmerns fristet der von Franz Beckenbauer zum „Cup der Verlierer“ herabgestufte UEFA-Cup. Diverse Organ-Transplantationen wie der Einbau von Gruppenphasen oder die jüngste Umoperation zur Europa League sind nichts weiter als lebenserhaltende Maßnahmen für den sportlichen Wachkomapatienten. Dank plastischer Chirurgie ist es hingegen der Champions League gelungen, sich zum einzigen Lebenszweck moderner Vertragsfußballer zu mausern. Ähnlichkeiten mit dem greisen Europapokal der Landesmeister sind dank millionenschwerer Botox-Injektionen und ausufernder Umbaumaßnahmen längst weggeglättet. So säuselt nur noch die Liga der Besten mit millionenschwer aufgespritzten Lippen verführerische Versprechungen vom ewigen Ruhm in die Gehörgänge wankelmütiger Jungstars. Immer treu unterstützt von der wild wuchernden Medienlandschaft.
Theorie 2: Allmächtiges Fernsehen
Man muss schon einen gewaltigen Hang zum Masochismus haben, um sich freiwillig im Free-TV das alljährliche Erstrundengetrete deutscher Teams anzusehen. Beinahe traditionellen Charakter haben hierbei die Auftritte von Hertha BSC gegen osteuropäische Provinzteams, auf deren Anreisen regelmäßig sämtliche Vokale verloren zu gehen scheinen. Glücklich ist darum, wer sein sauer verdientes Geld für die fesselnden Duelle von Barcelona, Liverpool, Arsenal und Konsorten in den goldenen Pay TV-Hintern schieben darf. Für Ronaldos Dribblings, Rooneys Angriffswucht und Iniestas Zuckerpässe nimmt man eben auch die cholerischen Ausraster des ewigen Marcel Reif in Kauf. Derart zielgenau ferngesteuert, saugen die Nachwuchsstars der Topligen die Wir-hier-oben-ihr-da-unten-Mentalität gleichsam mit der Muttermilch auf. Kaum verwunderlich, dass Traditionsvereine wie der Hamburger SV oder Schalke 04 für ambitionierte Profis wie Raffael van der Vaart oder Rafinha nur noch als Karrieresprungbrett gelten. Selbst der große FC Bayern kann seinen Wetklassekicker Franck Ribéry nur mehr schlecht als recht davon abhalten, den Verlockungen der internationalen Konkurrenz zu erliegen.
Ein ganz ähnliches Bild findet sich auch auf nationaler Ebene. Während spätestens unterhalb der 3. Liga das Augenmerk der Vereine dem eigenen wirtschaftlichen Überleben gilt, fressen sich die Spitzenvereine der Bundesliga an den millionenschweren TV-Geldern fett.
Das Rampenlicht und dicke Geldbündel lassen die Profis immer höher, immer weiter streben. Nur keine Chance verpassen, nur nicht im Mittelmaß sesshaft werden.
Theorie 3: Gesellschaftliche Orientierungslosigkeit und ihre Profiteure
Mit den Worten „Dahäm is Dahäm“ fertigte der große Fritz Walter einst ein wahnwitziges Transferangebot von Racing Paris ab. Die Heimatverbundenheit des „treuen Fritz“ war schon damals keine Selbstverständlichkeit, heute käme sie einem Weltwunder gleich. Eine mögliche Antwort für das „Warum“ findet sich in der Soziologie.
Der Münchener Ulrich Beck beschäftigte sich u.a. mit den Konsequenzen sich auflösender historischer Bindungen und der fortschreitenden gesellschaftlichen Individualisierung. Der Mensch in postmodernden westlichen Gesellschaften sei sozial wie geographisch mobiler geworden und längst nicht mehr so eng in die Netze von Familie, Dorf, Kirche, Gewerkschaft usw. verwoben, wie dies zu Zeiten Fritz Walters der Fall war. Das Individuum wurde von diesen Bindungen freigesetzt und bestimme nun eigenverantwortlich durch welche der zahllosen offenen Türen es die Zukunft betritt. Doch diese Freisetzung bedeute nicht nur das Ablegen von Ketten, sie bedeute gleichzeitig den Verlust von Sicherheit, von traditionell vorgegebenen Handlungsmustern. Das Individuum reagiere mit Unsicherheit und Orientierungslosigkeit. Kein Wunder, dass gerade die in aller Regel formal eher niedrig gebildeten Fußballprofis in dieser Situation den hehren Versprechungen sogenannter „Berater“ Glauben schenken, Glauben schenken WOLLEN. Der Haken an der Sache: Die Berater im modernen Profifußball verdienen besonders dann gut, wenn ihr Schützling wechselt. Vertragsverlängerungen nehmen hingegen eher die Rolle eines willkommenen Zubrots ein. Dass gewissenlose Scharlatane, die genau wissen, an welchem Rädchen sie bei ihren Profis drehen müssen, um sie in die gewünschte Richtung zu bewegen, diese Situation eiskalt ausnutzen, liegt in der Natur der Sache.
Diese Auflistung ließe sich nahezu beliebig fortsetzen. Allerdings: Der Gedanke daran, dass die Spezies des Vereins-Urgesteins in absehbarer Zeit weniger dem Jangtse-Glattschweinswal als vielmehr dem Schweinsfuß-Nasenbeutler ähnelt, schreit geradezu nach einer Rückkehr zum dumpfen Stammtischgepoltere.
Der possierliche Schweinsfuß-Nasenbeutler ist längst ausgestorben.
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